Ist ein behindertes volljähriges Kind vollstationär in einem Heim untergebracht, übernimmt das Sozialamt im Allgemeinen die Heimkosten (Eingliederungshilfe). In diesem Fall kommt es häufig vor, dass das Sozialamt bei der Familienkasse beantragt, das Kindergeld an das Sozialamt abzuzweigen. Aber steht das Kindergeld wirklich dem Sozialamt und nicht den Eltern zu? Der Bundesfinanzhof hat hierzu eine bemerkenswerte Entscheidung gefällt, die betroffene Eltern kennen sollten. Zumindest dürfen es sich Familienkassen und Gerichte in Sachen "Abzweigung des Kindergeldes" nicht mehr so einfach machen wie oftmals in der Vergangenheit.

Zum Hintergrund: Die Familienkasse kann das Kindergeld an das Sozialamt bzw. an die Stelle auszahlen, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Der Unterhaltsanspruch des Kindes, für das Sozialleistungen (z.B. Eingliederungsbeihilfe) gewährt werden, geht in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialleistungsträger über. Eine Abzweigung des Kindergeldes setzt voraus, dass der Kindergeldberechtigte zivilrechtlich zum Unterhalt verpflichtet ist, aber keinen Unterhalt leisten will, keinen Unterhalt leisten kann oder als Unterhalt nur einen geringeren Betrag als das Kindergeld zu leisten braucht (§ 74 EStG).

ABER: Da das Kindergeld die finanzielle Belastung der Eltern durch den Unterhalt für das Kind ausgleichen soll, hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe den Eltern Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Falls also den Eltern für das behinderte volljährige Kind Aufwendungen mindestens in Höhe des Kindergeldes entstehen, kommt eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht. Sind die Aufwendungen geringer, ist eine teilweise Abzweigung des Kindergeldes möglich. Bei der Prüfung, ob Aufwendungen in Höhe des Kindergeldes entstanden sind, dürfen keine fiktiven Kosten für die Betreuung des Kindes, sondern nur tatsächlich entstandene Aufwendungen für das Kind berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 9.2.2009, BStBl 2009 II S. 928).

Die Frage, ob eine Abzweigung des Kindergeldes in Betracht kommt, ist eine Ermessensentscheidung der Familienkasse, die aber oft zulasten der Betroffenen und zugunsten der Sozialträger ausgeübt wird. Auch zeigt die Praxis, dass es sich die Familienkassen bei der Ermittlung des Sachverhaltes vielfach sehr einfach machen. Vielmehr werden die Eltern mit umfassenden, aber gleichzeitig nichtssagenden Schriftsätzen konfrontiert, die aus diversen Textbausteinen "zusammengewürfelt" sind. Doch so einfach dürfen es sich die Familienkassen - und auch die Finanzgerichte im Klageverfahren - nicht machen!

AKTUELL hat der Bundesfinanzhof entschieden, dass ein Finanzgericht die Ermessensentscheidung der Familienkasse, die gegenüber einem Kindergeldberechtigten einen Abzweigungsbescheid zugunsten eines Sozialleistungsträgers erlassen hat, auch daraufhin überprüfen muss, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat (BFH-Urteil vom 27.5.2020, III R 58/18).

  • Der Fall: Der Sohn der Klägerin lebt in einem Wohnheim für blinde Menschen und erhält Eingliederungshilfe. Die Mutter bezog für ihn Kindergeld, das allerdings seit Jahren nicht in voller Höhe ausgezahlt wurde. Vielmehr wurde dieses durch die Familienkasse an den Sozialträger abgezweigt. Hiergegen wehrte sich die Mutter. Sie trug vor, ihr entstünden unstreitig monatliche Aufwendungen von mehr als 500 EUR für den Unterhalt des Sohnes. Sie wies unter anderem darauf hin, dass sie in ihrer Wohnung ein Zimmer für ihren Sohn vorhalte. Einspruch und Klage blieben jedoch erfolglos. Die Finanzrichter waren der Ansicht, dass die Mutter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachgekommen sei, da sie die zum Lebensbedarf ihres Sohnes gehörenden laufenden Kosten der Unterbringung im Blindenheim nicht übernommen habe. Die Abzweigungsentscheidung sei ermessensfehlerfrei zustande gekommen. Die Familienkasse habe den Sachverhalt ordnungsgemäß ermittelt. Doch der BFH gab der Revision statt.
  • Begründung: Sind die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach erfüllt, hat die Familienkasse eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, der dem Kind anstelle der eigentlich unterhaltsverpflichteten Eltern Unterhalt gewährt. Bei der Ermessensausübung sind auch geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten für das behinderte Kind zu berücksichtigen, sofern dieser nicht selbst Sozialleistungen bezieht. Hierbei sind die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen anzusetzen.
  • Zu den Unterhaltsleistungen für ein in einer Einrichtung untergebrachtes Kind gehört auch die Zurverfügungstellung eines Zimmers in der Wohnung des Kindergeldberechtigten. Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, ist eine Abzweigung nicht ermessensgerecht. Beachtet die Familienkasse diese Grundsätze nicht, führt dies zu einem Ermessensfehler, den das Finanzgericht zu beanstanden hat. Im Rahmen seiner Überprüfung muss das Gericht auch feststellen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind.
  • Im Urteilsfall drängte sich bereits nach Aktenlage die Annahme auf, dass der Klägerin zumindest Aufwendungen für ein in ihrer Wohnung für den Sohn vorgehaltenes Zimmer entstanden waren. Damit konnte die Familienkasse das Entstehen von Unterhaltsaufwendungen jedenfalls wegen Kosten für ein eigenes Zimmer des Sohnes in ihrem Haushalt nicht ohne Weiteres wegen fehlender Nachweise verneinen.

MEINUNG: Der dem Urteil zugrundeliegende Sachverhalt zeigt erneut, wie Familienkassen und Sozialträger zuweilen mit behinderten Menschen und ihren Eltern umgehen. Auch die Art und Weise, wie das Finanzgericht die Klage abgeschmettert hat, ist kein Ruhmesblatt für die Justiz. Wenn sich bereits nach Aktenlage die Übernahme von Unterhaltsaufwendungen aufdrängte, ist doch fragwürdig, wie die Richter zu ihrem Urteil gelangt sind. Besonders kritikwürdig: Das Gericht hat selbst einen angebotenen Zeugenbeweis abgelehnt, sondern letztlich einfach die Aussagen der Familienkasse mehr oder weniger ungeprüft übernommen. Gut, dass der BFH dem Treiben ein Ende bereitet und den Finanzrichtern die Leviten gelesen hat.

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