Zuweilen kommt es vor, dass das Finanzamt einen bestimmten Sachverhalt viele Jahre lang nicht beanstandet oder ihn im Sinne des Steuerpflichtigen gewürdigt hat, dann aber plötzlich seine Meinung ändert und zu einem anderen Ergebnis gelangt - und zwar ohne dass sich das Gesetz geändert oder es ein einschneidendes Urteil des Bundesfinanzhofs gegeben hat. Dürfen betroffene Steuerzahler dann auf die jahrelange Handhabung durch das Finanzamt vertrauen und den Grundsatz von Treu und Glauben anführen? Die Antwort lautet "Eher Nein".
  • Der Grundsatz von Treu und Glauben ist ein hohes Gut und daher auch im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 242 BGB) verankert. Und der Bundesfinanzhof hatte schon im Jahre 1989 wie folgt entschieden: Der Grundsatz von Treu und Glauben ist im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt. Er gebietet, dass im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die Belange des anderen Teiles Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren (nachhaltigen) Verhalten nicht in Widerspruch setzt, auf das der andere vertraut hat (BFH 9.8.1989, I R 181/85, BStBl 1989 II S. 990). ABER: Wer das Urteil zu Ende liest, wird feststellen, dass die Richter ihre Haltung ziemlich relativiert haben. Trotz der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben konnte kein Vertrauensschutz zugunsten der Klägerin geschaffen werden. In dem Streitfall ging es um einen Spendenabzug. Und beispielsweise hat der BFH im Jahre 2004 entschieden: Der Grundsatz der Abschnittsbesteuerung gebiete es, dass das Finanzamt in jedem Veranlagungszeitraum die einschlägigen Besteuerungsgrundlagen erneut prüft und rechtlich würdigt (BFH-Beschluss vom 2.8.2004, IX B 41/04).
  • Die Finanzverwaltung beruft sich in der Praxis zumeist auf das Prinzip der so genannten Abschnittsbesteuerung anstatt sich auf eine eventuell andere Behandlung in den Vorjahren "festnageln" zu lassen. Das bedeutet, dass das Finanzamt jedes Jahr erneut prüfen darf, und zwar unabhängig von ihren Beurteilungen in den Vorjahren. Beispielsweise könnte einmal anerkannte doppelte Haushaltsführung im Folgejahr gestrichen werden, weil ein neuer Sachbearbeiter der Ansicht ist, dass die Entfernung zwischen Haupt- und Zweitwohnsitz nicht ausreicht, um die Notwendigkeit eines doppelten Haushalts zu begründen.

Fazit: In der Praxis hilft der Grundsatz von Treu und Glauben nur selten weiter. Wenn es "hart auf hart" kommt, geht das Prinzip der Abschnittsbesteuerung vor. Die eventuell unzutreffende Behandlung von Sachverhalten in den Vorjahren kann also im aktuellen Jahr zumeist "repariert" werden (so auch: Niedersächsisches FG, Urteil vom 20.3.2019, 9 K 125/18; FG München, Urteil vom 19.10.2017, 7 K 3429/16; FG Münster, Urteil vom 20.1.2016, 11 K 2168/14 E,G.)

AKTUELL muss der Bundesfinanzhof wieder einmal zur Frage des Vertrauensschutzes entscheiden. Vorausgegangen ist ein sicherlich ungewöhnlicher Fall, doch möglicherweise werden die Richter auch allgemein zum Grundsatz von Treu und Glauben Stellung nehmen. Insofern sollten andere Fälle, in denen es um einen eventuellen Vertrauensschutz geht, unter Berufung auf das Verfahren vor dem BFH offen gehalten werden. Das Az. lautet VIII R 34/24. Vorausgegangen ist ein Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 10.11.2023 (3 K 1608/21 E).

  • Der Fall: Eine Frau erhielt seit rund 40 Jahren Witwengeldzahlungen auf Grundlage eines Knappschaftszahnarztvertrages ihres verstorbenen Ehemannes. Und 40 Jahre lang hat das Finanzamt diese Zahlungen als Renteneinkünfte erfasst, die teilweise steuerfrei blieben. Erst im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung 2018 kam das Finanzamt zu der geänderten Auffassung, dass die Zahlungen nachträgliche Einnahmen der Klägerin aus freiberuflicher Tätigkeit ihres verstorbenen Ehemannes gemäß § 24 Nr. 2 EStG i.V.m. § 18 EStG darstellen würden. Und diese seien voll zu versteuern. Die hiergegen gerichtete Klage blieb erfolglos, und zwar sowohl materiell-rechtlich als auch verfahrensrechtlich.
  • Der wirtschaftliche Zusammenhang der Witwengeldzahlungen zur früheren Zahnarzttätigkeit des verstorbenen Ehemannes begründe die Zuordnung der Einnahmen zu den Einkünften aus freiberuflicher Tätigkeit. Vor allem aber: Die offenbar jahrzehntelange steuerliche Berücksichtigung der Ruhegehalts- und Witwengeldzahlungen als sonstige Einkünfte durch die Finanzverwaltung stehe der nunmehrigen - materiell-rechtlich zutreffenden - Erfassung als nachträgliche Einnahmen i.S. von § 24 EStG nicht entgegen. Insbesondere könne sich die Klägerin aufgrund des Prinzips der Abschnittsbesteuerung nicht auf einen Vertrauensschutztatbestand berufen.

STEUERRAT: Wie erwähnt liegt nun aber die Revision vor. Die Rechtsfrage lautet: Darf der Fortbestand einer bisherigen langjährigen (hier: 40 Jahre) steuerlichen Behandlung allein unter Hinweis auf das Prinzip der Abschnittsbesteuerung abgelehnt werden?

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