Wer seinen Steuerbescheid später als 15 Monate nach dem Steuerjahr erhält, muss bei einer Steuernachzahlung zusätzlich Zinsen zahlen. Diese Nachzahlungszinsen betragen 0,5 Prozent je vollen Monat. Wer indes eine Steuererstattung erhält, bekommt entsprechende Erstattungszinsen (§ 233a AO). Die Höhe des Zinssatzes ist im Gesetz festgelegt (§ 238 AO). Ein Zinssatz von 6 Prozent p.a. ist heutzutage außerordentlich hoch, wo doch die Marktzinsen schon seit etlichen Jahren nahe Null und sogar im Negativbereich liegen. Im Vergleich dazu stellt der Zinssatz des Fiskus von 6 Prozent heute ein auffälliges Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung dar. Nun hat das Bundesverfassungsgericht diesem Zinswucher ein Ende bereitet.

Zunächst zur "Historie" der zahlreichen Urteile und Verwaltungsanweisungen in Sachen "Steuerverzinsung":

  • Der Bundesfinanzhof hatte im Juli 2014 entschieden, dass der gesetzliche Zinssatz von 6,0 Prozent pro Jahr bis März 2011 (noch) nicht verfassungswidrig sei (BFH-Urteil vom 1.7.2014, IX R 31/13). Ebenfalls als verfassungsgemäß hat der BFH den Zinssatz beurteilt für die Zeit bis 5.12.2011 (BFH-Urteil vom 14.4.2015, IX R 5/14) und bis 19.1.2012 (BFH-Beschluss vom 21.10.2015, V B 36/15). Zuletzt hat der BFH im November 2017 entschieden, dass der Zinssatz von 6 Prozent p.a. auch im Jahre 2013 noch verfassungsgemäß ist (BFH-Urteil vom 9.11.2017, III R 10/16).
  • Endlich - im April 2018 - konnte sich der Bundesfinanzhof, und zwar der 9. Senat, nach etlichen "irrealen" Urteilen nicht mehr länger winden und vor einer realitätsgerechten Entscheidung drücken: Endlich haben die höchsten Finanzrichter "schwerwiegende" Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von 6 Prozent geäußert - allerdings erst für Verzinsungszeiträume ab 2015! (BFH-Beschluss vom 25.4.2018, IX B 21/18).
  • Auch ein anderer Senat des BFH - diesmal der 8. Senat - hatte schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von 6 Prozent zugegeben und sich damit der Auffassung des 9. Senats angeschlossen. Noch besser: Die vermutete Verfassungswidrigkeit soll bereits für Verzinsungszeiträume ab November 2012 gelten (BFH-Beschluss vom 3.9.2018, VIII B 15/18).
  • Die Finanzverwaltung gewährt seit Mitte Juni 2018 im Fall von Steuernachzahlungen für festgesetzte Nachforderungszinsen die Aussetzung der Vollziehung. Das bedeutet, dass Sie als Steuerzahler die Nachforderungszinsen vorerst nicht bezahlen mussten. Dies galt aber nur dann, wenn Sie einen entsprechenden Antrag - am besten in Form eines Einspruchs - ans Finanzamt gerichtet haben. Die Aussetzung erstreckte sich zunächst auf Verzinsungszeiträume ab dem 1.4.2015 (BMF-Schreiben vom 14.6.2018, BStBl 2018 I S. 722), später dann auf Zeiträume ab dem 1.4.2012 (BMF-Schreiben vom 14.12.2018, BStBl 2018 I S. 1393).
  • Die Finanzämter erlassen ab Mai 2019 alle Steuerbescheide mit Nachforderungs- oder Erstattungszinsen von 0,5 Prozent p.m. hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes mit einem Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO (BMF-Schreiben vom 2.5.2019, BStBl 2019 I S. 448).

AKTUELL hat sich nach langen Jahren endlich das Bundesverfassungsgericht zu einer Entscheidung durchgerungen - leider nur halbherzig: Die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit einem Zinssatz von 0,5 Prozent monatlich bzw. 6 Prozent jährlich ist ab dem 1.1.2014 verfassungswidrig! Doch korrigiert werden muss der Zinssatz erst ab dem 1.1.2019. Die Regelung in § 233a und § 238 Abs. 1 Satz 1 AO ist insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar (BVerfG-Beschluss vom 8.7.2021, 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17).

  • Die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO mit dem Grundgesetz umfasst ebenso die Erstattungszinsen zugunsten der Steuerbürger. Die Vollverzinsung gibt es bei der Einkommen-, Körperschaft-, Umsatz- und Gewerbesteuer (sowie im Prinzip auch bei der Vermögensteuer), nicht jedoch beim Solidaritätszuschlag. Kirchensteuern werden nur verzinst, soweit die Landeskirchensteuergesetze dies im Ausnahmefall vorsehen. Der Zinssatz von 6 Prozent gilt ebenfalls für Hinterziehungs-, Aussetzungs- und Stundungszinsen, doch dies steht hier nicht auf dem Prüfstand.
  • Für Verzinsungszeiträume vom 1.1.2014 bis zum 31.12.2018 gilt die verfassungswidrige Vorschrift jedoch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen.
  • Für Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 ist der Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 31.7.2022 eine verfassungsmäßige Neuregelung zu treffen, die sich rückwirkend auf alle Verzinsungszeiträume ab dem 1.1.2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheide erfasst.

STEUERRAT: Seit Mai 2019 enthalten alle Steuerbescheide bezüglich der Zinsen einen Vorläufigkeitsvermerk. Und deshalb müssen die Finanzämter nach einer gesetzlichen Neuregelung von sich aus diese Steuerbescheide ändern (BMF-Schreiben vom 2.5.2019, BStBl 2019 I S. 448). Wer für Zeiten ab 2019 Steuern nachzahlen und folglich Nachzahlungszinsen zahlen musste, wird Geld zurückbekommen. Umgekehrt dürfte aber auch gelten: Wer für Zeiten ab 2019 eine Steuererstattung und damit Erstattungszinsen erhalten hat, wird wohl einen Teil zurückzahlen müssen. Ob sich der der Fiskus tatsächlich traut, dien verfassungswidrigen Teil der Erstattungszinsen wieder zurückzufordern, bleibt abzuwarten. Eigentlich schützt die Abgabenordnung das Vertrauen des Steuerzahlers in einen zu seinen Gunsten ergangenen Steuerbescheid. Doch die Finanzverwaltung hat bereits erkennen lassen, dass sie in dem speziellen Fall der Erstattungszinsen eine Durchbrechung dieses Grundsatzes für zulässig erachtet. Und tatsächlich: Laut § 31 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz hat eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in bestimmten Fällen Gesetzeskraft. Insofern wäre eine Rückforderung von Zinsen wohl durchaus möglich.

STEUERRAT: Kritisch wird es auch für diejenigen, die für Zeiten vor 2018 einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt haben: Sie müssen damit rechnen, dass der Fiskus die "ausgesetzten" Nachzahlungszinsen nun nachfordert. Auch hier darf man gespannt sein, ob der Fiskus tatsächlich verfassungswidrige Zinsen nachfordert.

Wie hoch wird der Zinssatz wohl künftig sein? Das Bundesverfassungsgericht äußert sich hierzu nicht, das muss der Gesetzgeber festlegen. Wegen der bevorstehenden Bundestagswahlen und der zu erwartenden langen Regierungsbildung wird in diesem Jahr wohl nichts mehr beschlossen. Die FDP hat mehrmals vergeblich beantragt, dass der Zinssatz für jeden Monat 1/12 des Basiszinssatzes gemäß 247 BGB beträgt, zumindest 0,1 Prozent (BT-Dr. 19/19158 vom 14.5.2019; BT-Dr. 19/19601 S. 29).

HINWEIS: Aufgrund der erheblichen Belastungen durch die Corona-Pandemie wurden die Fristen zur Abgabe der Einkommen-, Körperschaft-, Gewerbe- und Umsatzsteuererklärungen - zum Teil wiederholt - verlängert. Dies betrifft insbesondere die Veranlagungszeiträume 2019 und 2020. Gleichzeitig wurde für die Berechnung von Steuerzinsen die - regulär fünfzehnmonatige - zinsfreie Karenzzeit des § 233a Abs. 2 Satz 1 AO für den Besteuerungszeitraum 2019 um sechs Monate und für den Besteuerungszeitraum 2020 um drei Monate verlängert. Das heißt: Der "allgemeine“ Zinslauf der Vollverzinsung beginnt für den Besteuerungszeitraum 2019 erst am . Für den Besteuerungszeitraum 2020 beginnt er am 1. Juli 2022. Dies betrifft gleichermaßen Erstattungs- wie Nachzahlungszinsen.