Hintergrund
Bei Lebensversicherungen mit Vertragsabschluss vor 2005 ist die Versicherungsleistung im Erlebensfall oder bei Rückkauf (Kündigung) auch seit 2009 weiterhin steuerfrei und kein Thema für die Abgeltungsteuer, wenn
- die Vertragslaufzeit mindestens 12 Jahre beträgt,
- die Beiträge laufend für mindestens 5 Jahre geleistet werden,
- der Todesfallschutz mindestens 60 % der Beitragssumme beträgt und
- die Versicherungsansprüche nicht steuerschädlich für Finanzierungszwecke eingesetzt werden.
Dies gilt nicht nur für Kapitallebensversicherungen, sondern auch für Rentenversicherungen mit Kapitalwahlrecht. Bei letztgenannten Versicherungen kann man wählen, ob die Versicherungsleistung als Rente oder als Kapitalzahlung erfolgen soll. Wird bei Fälligkeit das Kapitalwahlrecht ausgeübt, sind die in der Einmalzahlung enthaltenen Zinsen steuerfreie Kapitalerträge. Wird hingegen das Kapitalwahlrecht nicht ausgeübt, sondern die Rentenzahlung gewünscht, sind diese Renten - nach Ansicht der Finanzverwaltung - mit dem Ertragsanteil als "sonstige Einkünfte" nach § 22 EStG steuerpflichtig. Die Höhe des Ertragsanteils richtet sich nach dem Lebensalter des Berechtigten zu Beginn der Rentenzahlung (BMF-Schreiben vom 1.10.2009, BStBl. 2009 I S. 1172 Rz. 19).
Das sensationelle BFH-Urteil
Bereits Mitte 2021 hat der Bundesfinanzhof die Ertragsanteilsbesteuerung aber sensationell verworfen und zugunsten der Versicherten entschieden, dass bei einer steuerbegünstigten privaten Rentenversicherung mit Verzicht auf das Kapitalwahlrecht die Rentenzahlungen insgesamt zu den Einkünften aus Kapitalvermögen gehören und als solche grundsätzlich nicht der Besteuerung unterliegen. Und deshalb bleiben auch die Renten steuerfrei, weil es sonst zu einer Ungleichbehandlung mit der Kapitalzahlung kommt (BFH-Urteil vom 1.7.2021, VIII R 4/18).
- Eine unterschiedliche steuerliche Behandlung der Versicherungsleistung je nachdem, ob von dem Kapitalwahlrecht Gebrauch gemacht wird oder nicht, sieht der Gesetzeswortlaut des § 20 Abs. 1 Nr. 6 Satz 2 EStG 2004 nicht vor.
- Die Renten sind nicht aufzuteilen in einen Leibrentenanteil (der mit dem Ertragsanteil steuerpflichtig ist) und einen Zinsanteil (der als Kapitalertrag hier steuerfrei ist). Der Umstand, dass die Rentenbezüge aus verschiedenen Bestandteilen (Garantierente, Überschussbeteiligung aus der Ansparphase) bestehen, ändert nämlich nichts daran, dass der gesamte Rentenanspruch auf einem einheitlichen Versicherungsvertrag beruht und durch die laufenden Beitragsleistungen erworben wurde.
- Eine Einschränkung gibt es allerdings doch: Die Gesamtbezüge bei Ausübung des Rentenwahlrechts sind nicht der Besteuerung zu unterwerfen, "soweit die Summe der ausgezahlten Rentenbeträge das in der Ansparzeit angesammelte Kapitalguthaben einschließlich der Überschussanteile nicht übersteigt." Offen gelassen hat der BFH, wie in späteren Rentenjahren nach Übersteigen des Kapitalbetrages die Besteuerung des in der Leibrente enthaltenen Zinsanteils zu erfolgen hat: mit dem Abgeltungssteuersatz (weil die Renten insgesamt den Einkünften aus Kapitalvermögen zuzuordnen sind) oder als sonstige Einkünfte mit dem Ertragsanteil wie bei Privatrenten ohne Kapitalwahlrecht.
Finanzämter sperren sich
Es muss leider darauf hingewiesen werden, dass die Finanzämter das positive BFH-Urteil - soweit erkennbar - auch nach über zwei Jahren nicht anwenden. Das heißt: Nach dem Willen aller oder zumindest der meisten Finanzämter werden die Renten, die eigentlich steuerfrei bleiben müssten, weiterhin besteuert. Vor allem aber:
- Die Versicherungsträger sehen sich offenbar an das o.g. BMF-Schreiben vom 1.10.2009 gebunden und übermitteln der Finanzverwaltung die Daten ("eDaten") so, wie es die Finanzverwaltung - und nicht wie es der BFH - verlangt.
- Die Versteuerung erfolgt regelmäßig automationsgestützt, das heißt, selbst wenn die Renten in der Steuererklärung gar nicht eingetragen werden, weil diese aufgrund des BFH-Urteil steuerfrei bleiben müssen, werden diese offenbar als so genannte eDaten einfach automatisch angesetzt und versteuert.
- Die Rentenempfänger werden üblicherweise weder von ihrem Finanzamt noch von ihrem Versicherungsträger darauf aufmerksam gemacht, dass die Versteuerung entgegen dem BFH-Urteil erfolgt.
STEUERRAT: Betroffene sollten ihre Steuerbescheide sehr aufmerksam prüfen und im Anschluss - unter Berufung auf das genannte BFH-Urteil - Einspruch einlegen. Wer dies unterlässt, muss befürchten, dass seine Rente unzutreffend besteuert wird. Das ist eine echte Steuerfalle!