Bei Auszahlung einer Kapitallebensversicherung, die nach 2005 abgeschlossen wurde, ist im Erlebensfall oder bei Rückkauf ein Teil der Versicherungsleistung als Kapitalertrag steuerpflichtig. Der Unterschiedsbetrag zwischen der Versicherungsleistung und der Summe der eingezahlten Versicherungsbeiträge unterliegt der 25 %-igen Abgeltungsteuer. Wird die Versicherungsleistung erst nach dem 60. Lebensjahr (bei Vertragsabschluss ab 2012: 62 Lebensjahr) und nach einer Vertragslaufzeit von mindestens 12 Jahren ausgezahlt, ist nur die Hälfte des Unterschiedsbetrages steuerpflichtig (§ 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG), dann jedoch mit dem persönlichen Steuersatz. AKTUELL hat das Niedersächsische Finanzgericht ein sensationelles Urteil zu Gunsten der Steuerzahler gesprochen: "Es kann geboten sein, einem Steuerpflichtigen die Kapitalertragsteuer auf Kapitalerträge aus einer Kapitallebensversicherung nach § 227 AO zu erlassen, wenn dies zur Sicherung der Existenzgrundlage des Steuerpflichtigen im Alter erforderlich ist". Als erlassbedürftig gilt, wer dauerhaft weniger als den monatlich unpfändbaren Betrag gemäß § 850c ZPO zur Verfügung hat, derzeit 1.133,80 EUR monatlich (FG Niedersachsen vom 13.06.2017, 8 K 167/16).

Der Fall: Eine schwerbehinderte erwerbsunfähige 60-jährige Frau erhielt im Jahre 2012 eine Kapitallebensversicherung ausgezahlt (rund 100.000 EUR). Einbehalten wurden Kapitalertragsteuer und Soli in Höhe von rund 30.000 EUR. Die Rentnerin beantragte beim Finanzamt den Erlass der Steuer und begründete dies damit, dass die ausgezahlte Lebensversicherung als Grundlage für ihre Rente bestimmt sei. Sie berief sich darauf, dass sie keine gesetzliche Rente bekommen könne und lediglich über geringe Einkünfte aus einer Zusatzrente in Höhe von 390 EUR verfüge. Das Finanzamt lehnte den Erlass der Steuer ab.

Sensation: Nach Auffassung der Finanzrichter ist die Ablehnung des Erlassantrages durch das Finanzamt rechtswidrig. Nach dem Gesetz kann ein Steuererlass gemäß § 227 AO aus sachlichen oder aus persönlichen Billigkeitsgründen gewährt werden. Ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen setzt die Erlassbedürftigkeit und die Erlasswürdigkeit des Antragstellers voraus.

Erlassbedürftigkeit besteht, wenn die Steuererhebung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Steuerbürgers vernichten oder ernstlich gefährden würde. Das ist der Fall, wenn ohne Billigkeitsmaßnahmen der notwendige Lebensunterhalt vorübergehend oder dauernd nicht mehr bestritten werden kann. Zum notwendigen Lebensunterhalt gehören die Mittel für Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Behandlung und für die sonst erforderlichen Ausgaben des täglichen Lebens, wie etwa zum Erwerb des notwendigen Hausrats und der sonst erforderlichen Gegenstände des täglichen Bedarfs. Der notwendige Lebensunterhalt ist nicht gleichzusetzen mit dem bloßen Existenzminimum, sondern bezeichnet darüber hinaus auch diejenigen Mittel, die eine angemessene, d.h. zwar bescheidene, nicht aber ärmliche Lebensführung ermöglichen. Für die Erlassbedürftigkeit ist zum einen das Einkommen und zum anderen das Vermögen zu prüfen:

  • Einkommen: Der Steuerbürger ist erlassbedürftig, wenn ihm ohne Billigkeitsmaßnahme dauerhaft weniger als der monatliche Betrag zur Verfügung stehen würde, der einem Arbeitnehmer oder Rentner von seinem Einkommen nach den Pfändungsschutzvorschriften der Zivilprozessordnung als unpfändbarer Betrag verbleiben würde. Da der unpfändbare Betrag vom Nettoeinkommen ausgeht, sind Steuern und Beiträge für die Krankenversicherung hierin noch nicht enthalten. Der nach § 850c ZPO unpfändbare Betrag liegt seit dem 1.7.2017 bei 1.133,80 EUR monatlich.
  • Vermögen: Grundsätzlich ist der Steuerbürger gehalten, zur Zahlung seiner Steuerschulden alle verfügbaren Mittel einzusetzen und auch seine Vermögenssubstanz anzugreifen. Davon ausgenommen sind allerdings die Fälle, in denen die Verwertung der Vermögenssubstanz den Ruin des Steuerbürgers bedeuten würde. Daher ist im Rahmen der Billigkeitsprüfung alten, nicht mehr erwerbsfähigen Steuerbürgern wenigstens so viel von ihrem Vermögen zu belassen, dass sie damit für den Rest ihres Lebens eine bescheidene Lebensführung bestreiten können. Konkret: Sie sollen von ihrem Vermögen soviel behalten können, um eine Versicherung über sofort fällige Leibrentenbezüge gegen eine Einmalprämie abzuschließen, und zwar in einer Höhe, die ihnen die Möglichkeit einer bescheidenen Lebensführung gestattet.

Tatsächlich ist die Klägerin erlassbedürftig: Die Klägerin würde bei Einzahlung des Betrags, den sie nach Abzug der Kapitalertragsteuer aus der Kapitallebensversicherung erhalten hat (100.000 EUR), eine monatliche Rente von rd. 330 EUR erhalten können. Stünde ihr stattdessen - nach einem Erlass - ein Betrag von 130.000 EUR zur Einzahlung in eine Leibrente gegen Einmalzahlung zur Verfügung, könnte sie eine monatliche Rente von rd. 430 EUR erzielen. Mitsamt der Zusatzrente von 390 EUR und nach Abzug der Krankenversicherung (154 EUR) stünden der Klägerin ohne Erlass rund 6.800 EUR und nach Erlass rund 8.000 EUR zur Verfügung. Somit liegt das zur Verfügung stehende Einkommen immer noch deutlich unter dem Pfändungsfreibetrag nach § 850c ZPO - und damit deutlich unterhalb dessen, was für eine nicht ärmliche, aber bescheidene Lebensführung erforderlich ist.

Die Richter des FG Niedersachsen sprechen eine "Verpflichtung des Finanzamts zum Erlass nach § 227 AO aus persönlichen Billigkeitsgründen aus". Denn aufgrund der persönlichen und wirtschaftlichen Umstände der Klägerin ergibt sich ein Anspruch auf Erlass der Einkommensteuer. Und ganz deutlich: "Das Entschließungsermessen des Finanzamtes ist auf null reduziert. Die Ablehnung des Erlasses kommt nicht in Betracht, weil sowohl die Erlassbedürftigkeit als auch die Erlasswürdigkeit feststehen."

Weitere Informationen: Abgeltungsteuer: Wie Lebensversicherungen besteuert werden